Ein Satz, gesprochen am 31. August 2015, hallt auch ein Jahrzehnt später noch nach: „Wir schaffen das.“ Er wurde zum Mantra einer Willkommenskultur, aber auch zum Reizwort in einer der polarisierendsten Debatten der Bundesrepublik. In der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ wurde nun, zehn Jahre danach, die Frage nach der Bilanz gestellt. Im Zentrum stand Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, der schon früh zu den schärfsten Kritikern gehörte. Seine Analyse ist eine komplexe Mischung aus Bestätigung, Warnung und überraschenden Differenzierungen, die das ganze Dilemma der deutschen Migrationspolitik auf den Punkt bringt.
Der frühe Kritiker und die heimliche Zustimmung
Markus Lanz konfrontierte Palmer direkt mit dessen früher Haltung. „Nach Merkels Satz, Herr Palmer, am 31. August 2015, also 10 Jahre her. Da haben Sie schon sieben Wochen später widersprochen“, leitete der Moderator ein und zitierte Palmers damaligen Tweet: „Wir schaffen das nicht“. Palmer verteidigte seine Position vehement und begründete sie mit der schieren Überforderung der Kommunen. „Weil zu dem Zeitpunkt jeden Tag etwa 10.000 Menschen über die Grenze gekommen sind“, so Palmer.
Für ihn war die Aussage der Kanzlerin, man könne die Grenzen nicht mehr kontrollieren, eine Bankrotterklärung. „Das ist ja letztlich nichts anderes als die Selbstaufgabe des Staates in einem seiner zentralen Felder“, argumentierte Palmer. Die Kontrolle der Grenzen sei eine Kernaufgabe staatlichen Handelns. Seine Kritik, die ihm damals den Vorwurf des Populismus einbrachte, sei von vielen Kollegen geteilt worden, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand. „Die haben die gleiche Wahrnehmung gehabt“, erklärte Palmer. Öffentlich habe man sich jedoch nicht getraut, dies zu sagen, aus Angst, die vielen ehrenamtlichen Helfer zu entmutigen.
Die Spannung in Palmers Argumentation: Kriminalität vs. Sicherheit
Der wohl größte Widerspruch in Palmers Ausführungen offenbarte sich beim Thema Kriminalität und Sicherheit. Einerseits lieferte er eine unbequeme Wahrheit, die oft als Argumentationsgrundlage für rechtspopulistische Parteien dient: die Überrepräsentation bestimmter Flüchtlingsgruppen in der Kriminalstatistik. „Die andere unbequeme Wahrheit (…) ist einfach die: (…) wir haben bei der Zusammensetzung der Geflüchteten ein starkes Überrepräsentationsproblem mit Gewalt“, erklärte Palmer und führte aus, dass Syrer, Iraker und Afghanen bei Gewaltdelikten statistisch zehnmal häufiger in Erscheinung träten als es ihrem Bevölkerungsanteil entspreche.
Andererseits trat er der pauschalen Behauptung, Deutschland versinke im Chaos, entschieden entgegen und entkräftete damit ein Kernnarrativ der AfD. „Wir haben heute ein Viertel weniger Tötungsdelikte als noch im Jahr 2000. Unser Land ist nicht unsicherer geworden“, stellte Palmer klar. Diese differenzierte Haltung – die Anerkennung spezifischer Probleme bei gleichzeitiger Ablehnung genereller Panikmache – ist der Kern von Palmers Position. Es ist keine einfache Anklage, sondern der Versuch, zwei unangenehme Wahrheiten gleichzeitig auszusprechen: Die allgemeine Sicherheit ist nicht gesunken, aber die Gewaltkriminalität durch bestimmte Zuwanderergruppen ist ein reales, zu lange ignoriertes Problem.
Die Realität vor Ort: Wenn Integration an Grenzen stößt
Wie dramatisch die Lage in manchen Kommunen ist, verdeutlichte Jutta Steinruck, Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen. Ihre Stadt hat einen Ausländeranteil von 56 Prozent. Sie betonte, dass die eigentliche Last von den Kommunen und den Ehrenamtlichen getragen wurde, nicht von der Bundesregierung. „Geschafft haben es damals tatsächlich nicht die Bundesregierung, sondern die Kommunen und die Ehrenamtlichen“, sagte sie. Doch heute seien die Grenzen erreicht. An der Gräfenauschule in Ludwigshafen sei die Situation so dramatisch, dass kaum noch deutschsprachige Kinder in den ersten Klassen säßen. Die Folge: Zum dritten Mal in Folge musste der gesamte Jahrgang sitzen bleiben. „Weil die Kinder nicht schulreif sind. Sie haben weder das Verständnis für die deutsche Sprache…“, so Steinruck.
Dieses Problem wird durch die innereuropäische Migration verschärft. Menschen aus Rumänien oder Bulgarien, die im Rahmen der EU-Freizügigkeit kommen, haben keine Pflicht, Deutschkurse zu besuchen. Ihre Kinder kommen ohne Sprachkenntnisse in die Schulen, was das System zusätzlich belastet. „Wir können das nicht verpflichtend machen“, klagte Steinruck und fügte hinzu, dass ihrer hochverschuldeten Stadt die finanziellen Mittel für zusätzliche, freiwillige Angebote fehlten.
Die soziale Sprengkraft: Bürgergeld und Wohnungsnot
André Neumann, CDU-Politiker und Oberbürgermeister von Altenburg, bezeichnete die Entscheidung von 2015 zwar als „Sternstunde der Demokratie“, kritisierte aber die darauffolgenden politischen Entscheidungen scharf. Vor allem die Integration in den Arbeitsmarkt sei gescheitert. In seinem Landkreis seien von rund 3.200 ukrainischen Geflüchteten nach drei Jahren nur 182 in Arbeit. Der Rest lebe vom Bürgergeld.
Diese Situation schaffe enormen sozialen Sprengstoff. Einheimische, die morgens zur Arbeit fahren, finanzieren mit ihren Steuern den Lebensunterhalt von Nachbarn, die nicht arbeiten. Dieser Umstand sei den Bürgern nicht mehr zu vermitteln. Boris Palmer pflichtete ihm bei und verwies auf die Wohnungsnot in seiner wachsenden Stadt Tübingen. Er habe Gespräche mit älteren Bürgern geführt, die ihr Leben lang gearbeitet haben und nun die Stadt verlassen müssen, weil sie sich die Miete von ihrer Rente nicht mehr leisten können. Gleichzeitig habe er die gesetzliche Verpflichtung, Geflüchtete unterzubringen und für sie Wohnraum anzumieten oder zu bauen. „Wie erkläre ich in dieser Konkurrenzsituation (…) dem einheimischen Rentner, dass er ausziehen muss und der Flüchtling eine Wohnung bekommt?“, fragte Palmer rhetorisch.
Fazit: Eine ungelöste Aufgabe mit unbequemen Wahrheiten
Die Diskussion bei Markus Lanz hat eindrücklich gezeigt, dass die Bilanz zehn Jahre nach „Wir schaffen das“ alles andere als einfach ist. Boris Palmer verkörpert dabei die Zerrissenheit der Debatte wie kein Zweiter. Er warnt vor Überlastung und benennt Kriminalitätsprobleme, wehrt sich aber gegen pauschale Untergangsszenarien. Er fordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Fakten, auch wenn diese für alle politischen Lager unbequem sind.
Die Kommunen, so der klare Tenor der Runde, sind am Limit. Die Integration scheitert oft nicht am Willen, sondern an fehlenden Ressourcen, an bürokratischen Hürden und an der schieren Masse der Aufgaben. Die damalige Willkommenskultur hat einer ernüchternden Realität Platz gemacht, in der die Versäumnisse der Vergangenheit die Gegenwart belasten. Der Satz „Wir schaffen das“ ist zu einer Hypothek geworden, deren Zinsen – in Form von sozialen Spannungen, Bildungsdefiziten und einem gespaltenen Land – noch lange abbezahlt werden müssen.
