Bei einer Matinee im Schloss Bellevue anlässlich des 9. November warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eindringlich vor den Bedrohungen, denen die Demokratie in Deutschland derzeit ausgesetzt ist. Er betonte, 107 Jahre nach der Ausrufung der ersten deutschen Republik stehe die freiheitliche Gesellschaft unter erheblichem Druck.
Steinmeier kritisierte, dass Populisten und Extremisten demokratische Institutionen verhöhnten, Debatten vergifteten und das Geschäft mit der Angst betrieben. „Das Tabu, sich offen zu solcher Radikalität zu bekennen, gilt für viele Menschen nicht mehr. Das Drehbuch der Antidemokraten, so scheint es uns manchmal, geht mühelos auf.“ Die zentrale Frage sei, wie die Gesellschaft dem begegnen könne.
Der Bundespräsident erinnerte zudem an die Pogrome des 9. November 1938 und wies auf den seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft angestiegenen Antisemitismus in Deutschland hin. Dieser manifestiere sich von rechts, links und aus der Mitte der Gesellschaft sowie unter muslimischen Einwanderern. Steinmeier schilderte die konkreten Ängste jüdischer Bürger: „Juden haben Angst, sich offen zu zeigen; jüdische Eltern bringen ihre Kinder mit mulmigem Gefühl zur Schule; jüdische Studierende werden angefeindet; Männer mit Kippa werden am helllichten Tag gewaltsam angegriffen.“
Auch 36 Jahre nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 sieht Steinmeier eine wachsende Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen und ein Verblassen der Erinnerung an die Friedliche Revolution. Er sagte: „Es fällt uns nicht leicht, dauerhaft Stärke und Ermutigung aus diesen glücklichen Stunden zu ziehen.“ Dieser Tag lehre jedoch, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, indem sie Angst in Zuversicht verwandeln und gemeinsam für positive Veränderungen eintreten.
Steinmeier unterstrich die Bedeutung der Bürgerbeteiligung und forderte dazu auf, aktiv die Demokratie zu stärken und sich einzumischen. Er bezeichnete die Selbstbehauptung der Demokratie als die zentrale Aufgabe der aktuellen Zeit, die nur gemeinsam bewältigt werden könne. An die schweigende Mehrheit appellierte er: „Ihnen möchte ich sagen: Mischen Sie sich ein.“ Es bedürfe aktiver Demokraten, die „den Mund aufmachen, im Parlament, beim Fußball, am Stammtisch, in der Schule, an der Bushaltestelle und am Arbeitsplatz.“
Hinsichtlich einer möglichen Diskussion über ein AfD-Verbot positionierte sich das Staatsoberhaupt besonnen. „Ein Parteienverbot ist die Ultima Ratio der wehrhaften Demokratie“, so Steinmeier. Er warnte davor, dies als die alles entscheidende Frage zu betrachten. Die politische Debatte um die Angemessenheit oder Unvermeidbarkeit eines solchen Mittels müsse geführt werden, und die Voraussetzungen sorgfältig geprüft und abgewogen werden.
Steinmeier betonte, man dürfe keinesfalls tatenlos bleiben, bis solche Fragen geklärt sind. Entscheidend sei, wie die Kräfte der politischen Mitte mit Demokratieverächtern und Extremisten umgingen, wie überzeugend die eigene politische Erzählung sei und wie fest die demokratischen Parteien stünden.
(Mit Material der dts Nachrichtenagentur erstellt)
