Die Episode verbindet einen spannungsgeladenen Kriminalfall mit politischer Brisanz – mitten im Kalten Krieg und vor dem Hintergrund der innerdeutschen Teilung. Dabei gelingt es der Inszenierung, nicht nur einen packenden Thriller zu erzählen, sondern auch ein atmosphärisch dichtes Zeitdokument zu schaffen.
Handlung: Zwischen Elbchaussee und DDR-Grenze
Die Geschichte beginnt mit einem ungewöhnlichen Amtshilfeersuchen aus der DDR an die Hamburger Kriminalpolizei: Auf einem Rastplatz der Transitautobahn nahe Leipzig wurde die Leiche eines Jungen entdeckt, der Kleidung aus westdeutscher Produktion trug. Die ostdeutschen Behörden ziehen das Gesuch jedoch schnell wieder zurück. Für viele wäre die Sache damit erledigt – nicht jedoch für Paul Trimmel.
Trimmel, ein Ermittler mit norddeutschem Dickschädel, wittert einen Zusammenhang, den andere ignorieren. Sein Ost-Berliner Kollege Karl Lincke, ein alter Bekannter aus Reichskriminalamtszeiten, versichert ihm zwar: „Der Fall ist tot für euch.“ Doch Trimmel kann den Gedanken an den toten Jungen nicht abschütteln.
Seine Spurensuche führt ihn zunächst in die noble Hamburger Elbchaussee. Hier befragt er Nachbarn des vermögenden Chemikers Erich Landsberger (Paul Albert Krumm), unehelicher Vater des toten Kindes. Landsberger ist inzwischen mit einem weiteren Sohn nach Frankfurt am Main gezogen. Trimmel reist ihm nach – und stößt in der luxuriösen, aber kalten Wohnung auf eine entscheidende Beobachtung: Der Junge spricht mit einem unverkennbaren ostdeutschen Akzent.
Über die Grenze – mit einem Trick
Offiziell darf Trimmel in der DDR nicht ermitteln. Doch das hält ihn nicht auf. Mit einer vorgetäuschten Autopanne verschafft er sich einen Vorwand, um in Leipzig ein Taxi zu nehmen. Sein Ziel: Eva Billsing (Renate Schroeter) in Markkleeberg, die Mutter des getauschten Kindes. Als er sie nicht antrifft, erfährt sie von seinem Besuch – und gerät in Panik. Sie trifft sich mit ihrem Freund Peter Klaus (Hans-Peter Hallwachs), Oberleutnant der Volkspolizei.
Klaus stellt Trimmel wenig später auf einem Rastplatz. Die Begegnung ist angespannt, fast schon ein Kräftemessen zwischen zwei Systemen. Doch am Ende bringt Klaus den ungebetenen Ermittler selbst zu Eva Billsing.
Ein düsterer Tauschhandel
Die Wahrheit, die Trimmel schließlich ans Licht bringt, ist erschütternd: Landsbergers Sohn leidet an Leukämie. Um ihm ein Leben in der Bundesrepublik zu ermöglichen, tauschte Landsberger das kranke Kind gegen Evas gesundes Kind aus – mit dem Versprechen, Eva später zu heiraten. Ein Abkommen, das über die streng bewachte innerdeutsche Grenze hinweg getroffen wurde und die Tragik der geteilten Nation aufzeigt.
Als Trimmel Landsberger mit den neuen Erkenntnissen konfrontiert, reagiert dieser aggressiv. Er zwingt Trimmel, gemeinsam in die DDR zu fahren, um die Aussagen zu überprüfen. Auf einem Rastplatz kommt es zur entscheidenden Begegnung zwischen Landsberger, Eva und Peter Klaus. Eva weigert sich nun, Landsberger zu folgen – sie will ihren Sohn zurück. Landsberger lehnt ab, schenkt ihr stattdessen ein Armband, und die beiden verabschieden sich.
Auf der Rückfahrt in den Westen stellt Trimmel die Frage, die bis zuletzt offenbleibt: Hat Landsberger den Jungen getötet? Der Chemiker deutet an, das Kind aus Mitleid erstickt zu haben, um weiteres Leid zu verhindern. Ob das stimmt, bleibt vage – und verleiht dem Schluss eine beklemmende Note.
Hinter den Kulissen
„Taxi nach Leipzig“ wurde ursprünglich nicht als Tatort-Auftakt konzipiert. Erst nachträglich entschieden die Verantwortlichen, den Film als erste Folge der neuen Reihe auszustrahlen. Damit reagierte die ARD auf den Erfolg der ZDF-Serie „Der Kommissar“. Die Idee: Jede Landesrundfunkanstalt stellt eigene Ermittlerfiguren, die in regional gefärbten Fällen ermitteln.
Die Dreharbeiten fanden größtenteils in Westdeutschland statt. Die Szenen, die in der DDR spielen, wurden mit originalgetreuen Requisiten inszeniert – unter anderem mit einem Wartburg 353 als Taxi und Polizeifahrzeug.
Die Bedeutung dieser Premiere zeigt sich auch in der tausendsten Tatort-Folge, die 2016 erneut „Taxi nach Leipzig“ hieß und mehrere Anspielungen sowie Cameo-Auftritte von Beteiligten des Originals enthielt.
Bild: NDR / Meyerbroeker
Ausstrahlung und Wirkung
Bei seiner Erstausstrahlung erreichte der Film einen Marktanteil von 61 Prozent – ein Wert, von dem viele heutige Produktionen nur träumen können. Dennoch waren die Kritiken 1970 zurückhaltend. Manche Medien sahen nur „eine Variante von Bekanntem“ und bemängelten fehlende Originalität.
Heute fällt das Urteil deutlich milder – und oft sogar begeistert – aus. Aus Sicht unserer Redaktion ist dieser erste Tatort ein Paradebeispiel dafür, wie ein Krimi zeitlos funktionieren kann: Die Inszenierung ist dicht, die Spannung stetig spürbar, die Figuren glaubwürdig gezeichnet. Der Film balanciert zwischen Kriminalfall und Charakterstudie, zwischen politischem Kontext und persönlichem Drama. Gerade diese Mischung macht ihn auch nach Jahrzehnten noch sehenswert.
Besetzung
- Kommissar Paul Trimmel – Walter Richter
- Eva Billsing – Renate Schroeter
- Erich Landsberger – Paul Albert Krumm
- Oberleutnant Peter Klaus – Hans-Peter Hallwachs
- Kriminalmeister Höffgen – Edgar Hoppe
- Karl Lincke – Erwin Klietsch
- Elvira Kniebel – Marianne Hachfeld
- Volkspolizist – Ernst Wendt
- DDR-Grenzer – Günter Lamprecht
- Karl Bell – Gerhard Hartig
- Mechaniker in Leipzig – Horst Ulbricht
- Juwelier – Henry-Ernst Simmon
- Frau Lincke – Barbara Lienau
- Isolde – Jutta Zech
- Christian Landsberger – Boris Mahlau
- Frau Rau – Liselotte Kunze
Produktionsdaten
- Regie: Peter Schulze-Rohr
- Drehbuch: Friedhelm Werremeier, Peter Schulze-Rohr
- Produktion: Dieter Meichsner
- Musik: Friedrich Scholz
- Kamera: Nils-Peter Mahlau
- Schnitt: Inge Drestler
- Produktionsunternehmen: NDR
- Premiere: 29. November 1970
Fazit
„Taxi nach Leipzig“ ist weit mehr als nur der erste Tatort. Es ist ein Stück Fernsehgeschichte – mit einem Fall, der noch heute unter die Haut geht. Die Episode verbindet Krimispannung mit einer politischen Dimension, die die Dramatik der geteilten Nation eindrucksvoll widerspiegelt. Ein Klassiker, der beweist: Auch nach über fünf Jahrzehnten kann ein Tatort nichts von seiner Wucht verloren haben.