Dieser Weckruf zeigt, dass es ein tiefgreifendes Problem gibt, das weit über Fachchinesisch hinausgeht. Es geht um die grundlegende Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und für die eigene Gesundheit anzuwenden.
Das Kernproblem: Zwischen Unverständnis und Unsicherheit
Die Studie, die als Teil des umfassenden „Health Literacy Survey Germany“ (HLS-GER 3) durchgeführt wurde, legt die Finger schonungslos in die Wunde. Besonders dramatisch sind die Defizite, wenn es darum geht, die Vertrauenswürdigkeit von Informationen zu beurteilen:
- Bewertung von Behandlungen: Fast drei Viertel (73 %) der Befragten haben erhebliche Schwierigkeiten zu entscheiden, ob sie einer medizinischen Behandlung zustimmen oder sie ablehnen sollen.
- Medienskepsis fehlt: Eine fast ebenso große Gruppe (72 %) kann nur schwer einschätzen, ob Gesundheitsinformationen aus den Medien vertrauenswürdig sind.
Diese Zahlen zeigen eine massive Unsicherheit. In einer Welt voller widersprüchlicher Gesundheitsratschläge – von Social-Media-Trends bis zu wissenschaftlichen Studien – fehlt vielen Menschen der Kompass, um verlässliche von irreführenden Informationen zu unterscheiden.
Wer ist am stärksten betroffen? Eine Frage der sozialen Gerechtigkeit
Die mangelnde Gesundheitskompetenz ist kein Problem, das alle gleichermaßen trifft. Die Studie identifiziert klare Risikogruppen, bei denen die Defizite besonders ausgeprägt sind:
- Menschen mit niedrigem Bildungs- und Sozialstatus
- Ältere Menschen
- Chronisch Erkrankte
In diesen Bevölkerungsgruppen liegt der Anteil derjenigen mit geringer Gesundheitskompetenz teilweise bei über 75 Prozent. „Gesundheitskompetenz ist kein Privileg, sondern eine Grundvoraussetzung für Prävention, Teilhabe und Selbstbestimmung“, betont Prof. Dr. Mark Dominik Alscher, Geschäftsführer des Bosch Health Campus. Die Ergebnisse sind für ihn ein klarer Handlungsauftrag.
Die „Blackbox“ Gesundheitssystem: Über 80 Prozent fühlen sich verloren
Ein besonders erschreckendes Ergebnis offenbart die Studie bei der sogenannten navigationalen Gesundheitskompetenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich im komplexen deutschen Gesundheitssystem zurechtzufinden. Hier haben über 80 Prozent der Befragten massive Schwierigkeiten. Fragen wie „Welche Rechte habe ich als Patient?“, „Wo finde ich Unterstützungsangebote?“ oder „Wie funktioniert dieses System überhaupt?“ bleiben für die große Mehrheit unbeantwortet.
Prof. Dr. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld, die das Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung leitet, bringt es auf den Punkt: „Für weite Teile der Bevölkerung stellt das Gesundheitssystem bis heute eine ‚Blackbox‘ dar.“
Digitale Welt, analoge Fähigkeiten: Online lauern die größten Fallen
Auch im digitalen Raum sind die Kompetenzen schwach ausgeprägt. Zwei Drittel (66 %) der Befragten können mit digitalen Gesundheitsinformationen nur unzureichend umgehen. Das betrifft vor allem die Bewertung der Vertrauenswürdigkeit und Unabhängigkeit von Online-Quellen – eine Fähigkeit, die im Zeitalter von KI-gestützten Diagnosetools und Gesundheits-Influencern wichtiger ist als je zuvor.
Die Konsequenz: Ein Teufelskreis aus schlechterer Gesundheit und höheren Kosten
Die Defizite bleiben nicht ohne Folgen. Die Studie zeigt einen klaren Zusammenhang: Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz berichten nicht nur über einen schlechteren Gesundheitszustand, sie zeigen auch ein riskanteres Gesundheitsverhalten. Sie bewegen sich seltener, essen weniger Obst und Gemüse und nehmen das Gesundheitssystem häufiger in Anspruch – was zu mehr Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Notfallbehandlungen führt.
„Es braucht gezielte Innovationen und sektorenübergreifende Anstrengungen, um alle Menschen – unabhängig von Alter, Bildung oder sozialem Status – dazu zu befähigen, informierte Gesundheitsentscheidungen zu treffen“, so Dr. Katja Vonhoff vom Bosch Health Campus.
Die Studie ist mehr als nur eine Datenerhebung. Sie ist ein Appell, Gesundheitsbildung endlich ernst zu nehmen und ein System zu schaffen, das den Menschen dient – und nicht umgekehrt.