Von der Abkürzung zum Fußmarsch
Wer in Stuttgart am Hauptbahnhof zwischen S-Bahn, U-Bahn und Fernzügen umsteigen will, braucht Geduld – und vor allem Zeit. Seit dem Start der Bauarbeiten im Jahr 2010 haben sich Wege massiv verlängert. Wo früher ein paar Dutzend Schritte reichten, müssen Reisende heute lange Umwege in Kauf nehmen: Provisorische Stege, Tunnel und Treppen leiten Fußgänger durch das riesige Bauareal. Die Nord- und Südroute, wie die beiden Hauptwege heißen, sind jeweils fast einen Kilometer lang – und sorgen bei Ortsfremden für Staunen und Frust.
„Man fühlt sich wie auf einer Mini-Weltreise“, witzeln Pendler – und genau dieser Gedanke brachte den Spitznamen „Fernwanderweg“ ins Spiel.
Aus Protest wird Kult
Im Jahr 2021 starteten Unbekannte eine humorvolle Protestaktion: Sie klebten inoffizielle „Fernwanderweg“-Schilder an die Bauzäune. Die Bahn reagierte prompt und entfernte die Schilder – passenderweise pünktlich zum 11.11., dem Start der Fasnet. Doch der Begriff war geboren. Seither gehört der „Fernwanderweg“ zur inoffiziellen Stadtsprache und ist sogar auf Wander-Webseite komoot.com als „leichte Tour“ mit rund 1,1 Kilometern vermerkt. Der Ursprung war zwar satirisch gemeint, doch wird Begriff mittlerweile ganz selbstverständlich verwendet.
Skurrile Eindrücke unterwegs
Der Fußweg bietet Ansichten, die man sonst nur aus Bergregionen kennt – allerdings in einer urbanen Baustellen-Version. Tiefe Baugruben erinnern an künstliche Canyons, futuristische Betonkelche ragen aus der Tiefe, und an manchen Stellen führt der Weg in schwindelerregender Höhe über provisorische Stahlstege.
Wer hier unterwegs ist, sollte Humor mitbringen: Sitzgelegenheiten? Zum Beispiel eine Bank, die oft nassgeregnet ist und direkt neben einer Baustellen-Entlüftung steht. Für Pendler mit Koffern oder Mobilitätseinschränkungen wird der „leichte Wanderweg“ schnell zur Herausforderung, auch wenn die Route mittlerweile großteils überdacht ist.
Zwischen Frust, Spott und Viral-Hits
Längst hat der Fernwanderweg Kultstatus. Auf TikTok dokumentieren Pendler ihre „Touren“, zählen Schritte oder messen die Gehzeit – eines dieser Videos sammelte über 380.000 Aufrufe. Kommentare wie „20 Jahre älter nach dieser Strecke“ oder „Lost im Labyrinth“ spiegeln den kollektiven Frust wider.
Auch Prominente beteiligten sich am Spott: John Cleese fotografierte die Baustelle aus dem Hotelfenster und scherzte, er bleibe lieber im Hotel. Felix Lobrecht lästerte in einem Podcast über den „Irrgarten Stuttgart 21“.
Trotz des Ärgers hat sich eine Mischung aus Galgenhumor und Stolz entwickelt: Der Blog Kessel.TV schrieb augenzwinkernd, der Fernwanderweg sei längst „typischer Stuttgart-Lifestyle“.
Verkehr und Politik unter Druck
Für die Bahn ist der „Fernwanderweg“ mehr als ein Running Gag – er steht symbolisch für die Probleme des Großprojekts. Doch die Bahn dämpft Hoffnungen auf Besserung: Vor Oktober 2026 werde sich an der Streckenführung nichts Grundlegendes ändern. Bis zur geplanten Eröffnung des neuen Tiefbahnhofs Ende 2026 bleibt der Fußmarsch aber Realität.
Zwischen Touristenattraktion und Mahnmal
Offiziell wird der „Fernwanderweg“ nicht als Sehenswürdigkeit beworben. Doch Besucher, die an Führungen teilnehmen, erleben ihn zwangsläufig – und machen gerne ein Selfie auf dem „kürzesten Fernwanderweg Deutschlands“. Für manche ist er ein Symbol urbaner Kuriosität, für andere ein Mahnmal für Planungsmängel.
Klar ist: Dieser Weg ist längst mehr als nur ein Umweg – er ist ein Stück Stuttgarter Stadtgeschichte.