Seit 1998 zeichnet das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen jährlich eine Rede aus, die die politische, gesellschaftliche oder kulturelle Debatte maßgeblich beeinflusst. Entscheidend für die Jury sind unter anderem inhaltliche Relevanz, Vortragsstil, argumentative Stringenz und publizistische Wirkung. In all diesen Punkten habe Drosten überzeugt.
Deutliche Kritik am Umgang mit Fakten
Gleich zu Beginn seiner Rede findet Christian Drosten klare und ungewohnte Worte. Er diagnostiziert einen zunehmenden Verlust des gesellschaftlichen Bewusstseins für überprüfbare Fakten. Polarisierte Debatten, vereinfachte Schuldzuweisungen und die Personalisierung komplexer Sachverhalte seien Ausdruck eines tiefgreifenden Problems.
Besonders prägnant bleibt seine Aussage, dass Äußerungen postfaktischer Politiker „noch nicht einmal falsch, aber dennoch keineswegs richtig“ seien. Drosten spricht in diesem Zusammenhang von einem „vollkommenen Verlust der Orientierung an Fakten“.
Wissenschaft und Medien unter Druck
Der Virologe richtet seine Kritik nicht nur nach außen. Auch Wissenschaft und Journalismus seien von diesem Orientierungsverlust betroffen. Leistungsdruck, politische Anpassung und der Wunsch nach öffentlicher Aufmerksamkeit wirkten zunehmend auf das Wissenschaftssystem ein.
Diese Entwicklungen führten nach Drostens Einschätzung dazu, dass wissenschaftliche und journalistische Gütekriterien schleichend erodierten. Werte wie Altruismus, soziale Verantwortung und Mut gerieten dabei immer stärker ins Hintertreffen.
Wissenschaftsfreiheit bedeutet Verantwortung
Eine einfache Lösung präsentiert Drosten bewusst nicht. Mehr Wissenschaft allein reiche nicht aus. Entwicklungen in anderen Demokratien zeigten, dass Wissenschaftsfreiheit nicht bedeute, sich aus gesellschaftlichen Debatten herauszuhalten.
Stattdessen fordert er ein neues Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, das auch Verpflichtungen einschließt. Freiheit müsse Verantwortung nach sich ziehen. Wissenschaft dürfe sich nicht auf das reine Erklären beschränken, sondern müsse Haltung zeigen.
Vom Erklärer zum Mahner
Für die Jury der Universität Tübingen verkörpert Christian Drosten diesen Anspruch selbst. Während er während der Corona-Pandemie vor allem als sachlicher Erklärer wahrgenommen wurde, sieht er sich heute zunehmend als engagierte Stimme der Wissenschaft.
In seinem Schlussappell ruft Drosten Forschende und Institutionen dazu auf, sich aktiv in die demokratische Debatte einzubringen. Wissenschaftsfreiheit bedeute auch, Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander zu übernehmen.
Appell an Politik und Gesellschaft
Am Ende seiner Rede richtet Drosten seinen Blick über die Wissenschaft hinaus. Wissenschaft und Gesellschaft seien keine getrennten Sphären, sondern untrennbar miteinander verbunden. Nur wenn beide zusammengedacht würden, ließen sich Freiheit, Vertrauen und demokratische Stabilität sichern.
Auch die politisch Verantwortlichen nimmt er in die Pflicht. Die Institutionen der Wissenschaft müssten gestärkt werden, nicht aus Idealismus, sondern im eigenen Interesse demokratischer Gesellschaften. Wissenschaft sei nicht nur Freiheit, sondern auch Pflicht.



