Grausamer Fund, echte Geschichte, neue Ermittler
Ein Fass. Leichenteile. Ein Kellerfund, der alles ändert. So beginnt der erste Fall für Maryam Azadi (Melika Foroutan) und Hamza Kulina (Edin Hasanović), die frisch in der „Abteilung für Altfälle“ starten. Was folgt, ist keine klassische Täterjagd, sondern eine Reise in die düstere Vergangenheit. Die Tote: eine vermisste Prostituierte. Die Verbindung: ein Serienkiller, der über Jahrzehnte unentdeckt mordete. Und das Brisante: Der Film basiert auf echten Ereignissen, nämlich dem Fall des „Hessen-Rippers“ Manfred Seel. Schon das sorgt für Gänsehaut.
© HR/ARD Degeto/Sommerhaus/Daniel Dornhöfer
Es beginnt unscheinbar: Michaela Zeller, gespielt von Anna Drexler, entrümpelt die Garage ihres verstorbenen Vaters. Zwischen verstaubten Kisten und alten Werkzeugen stößt sie auf zwei große Plastikfässer – darin: Leichenteile. Die Polizei wird gerufen, und schnell zeigt sich: Diese sterblichen Überreste könnten der Schlüssel zu einer der größten unaufgeklärten Mordserien im Rhein-Main-Gebiet sein.
Azadi & Kulina: Ermittler mit Tiefgang
Dieses Duo funktioniert. Sie: analytisch, kontrolliert, mit Geheimnissen. Er: impulsiv, emotional, mit Vergangenheit. Beide eint der Wille zur Wahrheit. Und: Sie lassen sich nicht von Vorurteilen stoppen, sondern gehen dahin, wo es wehtut. Ihre Chemie stimmt. Ihre Geschichten sind erst angedeutet, aber machen Lust auf mehr.
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Während Azadi eine distanzierte, fast stoische Ruhe ausstrahlt, kämpft Kulina mit inneren Dämonen. Er wurde zwangsversetzt, trägt familiäre Last mit sich, doch genau das macht ihn zugänglich. Seine Herkunft, seine emotionale Direktheit stehen im Kontrast zu Azadis kontrolliertem Auftreten – und das bringt Spannung, aber auch Tiefe in die Dynamik.
Bemerkenswert: Es geht nie um Machtkämpfe, Status oder Eitelkeiten. Die beiden respektieren einander und begegnen sich auf Augenhöhe – ein erfrischender Kontrast zu vielen altgedienten „Tatort“-Teams, bei denen Reibung oft Selbstzweck ist.
Kein Fall für nebenbei – dieser Krimi will mehr
Dieser „Tatort“ verlangt mehr: Konzentration, Nervenstärke, Mitgefühl. Wer wegsieht, verpasst etwas. Denn selten war ein Krimi so dicht, so aufwühlend, so menschlich. Rückblenden, reale Archivbilder, starke Darsteller – „Dunkelheit“ ist Kino im Fernsehen.
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Anders als bei vielen anderen Fällen geht es hier nicht primär darum, den Täter zu fassen – denn der ist tot. Vielmehr steht die Frage im Raum: Wie viele Opfer hat er noch hinterlassen? Und: Haben sie Namen? Angehörige? Geschichten? Die Ermittlungen dienen der Wahrheit, nicht der Justiz. Ein ungewohnter, aber überaus gelungener Fokus.
Emotionale Tiefe statt routinierter Spannung
Ein entscheidender Unterschied: „Dunkelheit“ richtet den Blick auf die Opfer. Ihre Geschichten, ihre Leben, ihre Tragödien. Der Film nutzt Rückblenden nicht als Stilmittel, sondern als Brücke zur Vergangenheit – und gibt so den Toten ihre Würde zurück.
Besonders eindrücklich sind die Szenen, in denen Angehörige nach Jahrzehnten erfahren, was mit ihren Töchtern, Schwestern oder Müttern geschah. Die Kamera bleibt nah, der Ton ist leise – das geht unter die Haut.
Auch die psychologische Belastung der Ermittler bleibt nicht ausgeklammert: Kulina schläft kaum noch, wird von Albträumen verfolgt. Azadi hingegen wirkt kühl – doch auch bei ihr deuten sich emotionale Risse an. Am Ende scheint klar: Auch sie trägt ein dunkles Geheimnis, das in kommenden Episoden eine Rolle spielen könnte.
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Ein Serienkiller mit Doppelleben
Der Fall orientiert sich an den Taten des echten Serienmörders Manfred Seel, der als „Hessen-Ripper“ bekannt wurde. Zwischen 1971 und 2004 soll er mindestens fünf Frauen auf bestialische Weise getötet haben – teilweise verstümmelt, zerstückelt, über Jahre in Fässern gelagert. Entdeckt wurde er erst posthum, nach seinem Tod 2014. Seine Doppelleben als Familienvater und sadistischer Mörder erschüttern bis heute.
Der „Tatort“ zeigt dies eindrucksvoll – aber ohne Voyeurismus. Zwar spart der Film die grausamen Details nicht aus, doch es geht nie um Schockeffekte. Vielmehr um das Entsetzen darüber, wie jemand über Jahrzehnte unbehelligt morden konnte.
Die Besetzung im Überblick
- Melika Foroutan als Maryam Azadi
- Edin Hasanovic als Hamza Kulina
- Judith Engel als Sandra Schatz
- Gordana Boban als Emina
- Mieke Schymura als Rechtsmedizinerin Lange
- Anna Drexler als Michaela Zeller
- Martin Feifel als Rolf Waslaswiki
- Andreas Schröders als Andreas Rathkolb
- Susanne Bredehöft als Elisabeth Bader
- Alexandra Finder als Mia Samuel
- Sahin Eryilmaz als Mehmet Yenigün
- Miriam Schiweck als Anne Winterfeld
- Melodie Simina als Helena Haas (jung)
- Jonathan Wirtz als Tobias Waslawski
- Canan Kir als Meral Yenigün
- Ilkay Yalcin als Mehmet Yenigün (jung)
- Hans Diehl als Annes Vater
- Hiltrud Hauschke als Annes Mutter
- Silvia Schwinger als Yvonne Alpbach
- Denise M’Baye als Helena Haas
- Cäcilie Andresen als Luca Zeller
- Élodie Theres Toschek als Mia Samuel (jung)
- Jean-Luc Bubert als Annes Vater (jung)
- Noémie Ney als Laura Bianco
Fazit: Frankfurt schockt und berührt
„Dunkelheit“ ist kein Krimi, der einfach vorbeirauscht. Er trifft. Und er bleibt. Wer am Sonntagabend Emotionen statt Action sucht, ist hier richtig. Und wer „Tatort“ liebt, bekommt mit Azadi und Kulina zwei Figuren, die man nicht mehr missen möchte.
Visuell stark, erzählerisch konzentriert, emotional radikal ehrlich: Dieser Auftakt zeigt, wie moderner Krimi geht. Und macht Lust auf mehr. Schon am 30. November folgt Fall zwei: „Licht“. Wenn dieser das Niveau von „Dunkelheit“ hält, ist Frankfurt auf dem besten Weg, zum neuen „Tatort“-Hotspot zu werden.