In ihrem neuesten Fall werden die Stuttgarter Kommissare mit einer Tragödie konfrontiert, die ihnen unter die Haut geht. Eine junge Frau, Nelly Schlüter, wird tot in ihrer Wohnung gefunden – stark verwest, seit Wochen unbemerkt, obwohl sie mitten in einem Mehrfamilienhaus lebte. Der Fall wirkt auf den ersten Blick unspektakulär, doch die Frage, die sofort im Raum steht, ist brutaler als jeder Mord: Wie kann ein Mensch so sehr aus dem Leben verschwinden, dass es niemand bemerkt?

© SWR/Benoît Linder
Darum geht es in „Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen“
Nelly Schlüter war lebendig, freundlich, aufgeschlossen – und dennoch ein Mensch, der an jeder Tür scheiterte. Weder ihre Eltern noch ihr Bruder suchten den Kontakt, ihre beste Freundin Fine war eher erleichtert, Nelly nicht mehr in ihrem ohnehin perfekten Familienleben auftauchen zu müssen. Die Männer, die Nelly über Dating-Apps traf, verspotteten sie hinter ihrem Rücken. Und der Ex-Freund, der angeblich „nichts bemerkt“ hatte, telefonierte in Wahrheit noch kurz vor ihrem Tod mit ihr.

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Lannert und Bootz rekonstruieren das Leben einer Frau, die es verzweifelt besser machen wollte: sie brachte Kuchen vorbei, Blumen, kleine Geschenke – und stand doch immer wieder vor verschlossenen Türen. Die Ermittler stoßen auf Tagebucheinträge, die tiefer unter die Haut gehen als jede Tatort-Obduktion. Immer wieder taucht eine Zeile auf, die wie ein Hilfeschrei klingt:
„Es ist, als würde ich ganz laut um Hilfe rufen – aber niemand hört mich.“
Die Rückblenden zeigen eine Nelly, die versucht, irgendwo dazuzugehören. Sie inszeniert sich in Tagträumen als gefeierte Sängerin in einer TV-Show bei Pierre M. Krause, lächelt in die Kameras, wird bejubelt. Im echten Leben aber steht sie in Treppenhäusern, vor Türen, an Bushaltestellen – und keiner sieht sie.

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Lannert und Bootz fühlen sich mehr als Beobachter denn als Ermittler. Die Frage, ob Nelly ermordet wurde oder ob Einsamkeit selbst zu ihrer tödlichen Falle wurde, begleitet jeden Schritt der beiden. Die Obduktion zeigt Spuren, die auf Fremdeinwirkung hindeuten – doch die emotionale Wahrheit hinter ihrem Tod ist viel düsterer als ein klassischer Mord.
Kritik: Ein intensives Kammerspiel über eine verlorene junge Frau
„Überlebe wenigstens bis morgen“ wird von Kritikern bereits als einer der bewegendsten Stuttgart-Fälle der letzten Jahre bezeichnet. Der Film seziert die Isolation einer Generation, die in vermeintlich perfekten Wohnungen lebt, aber emotional verhungert. Mit großartig komponierten Bildern, eindringlichen Monologen der Toten und einer tragischen Hauptfigur entsteht ein Krimi, der lange nachwirkt.

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Der Film bricht mit vielen Tatort-Konventionen. Die Tote spricht zu uns. Die Täterfrage ist nebensächlich. Die Spannung entsteht aus Nellys Geschichte, aus ihrer Welt, aus der Frage, wie viele winzige Zurückweisungen nötig sind, um einen Menschen innerlich zu zerstören. Bayan Layla liefert in der Rolle der Nelly eine berührende, fast schon schmerzhafte Darstellung – während Richy Müller und Felix Klare bewusst zurückhaltend bleiben und dem Drama der Figur Raum geben.
Besonders hervorzuheben ist auch der Ton des Films. Der Titel stammt aus einem Song von Gerhard Gundermann – und seine Zeile „Überlebe wenigstens bis morgen“ bekommt spät im Film eine beklemmende Bedeutung.
Es ist ein Appell, der sich an die Zuschauer richtet, ohne den Moralhammer auszupacken.
Lannert und Bootz: Ermittler als stille Beobachter
Interessant ist, wie der Film mit den Stuttgarter Ermittlern umgeht. Thorsten Lannert und Sebastian Bootz sind zwar präsent, dominieren das Geschehen aber nicht. Sie sind Beobachter, Fragesteller, Katalysatoren – aber nicht die Helden, die mit genialen Einfällen den Fall in letzter Minute lösen.
Stattdessen sitzen sie in Küchen, Wohnzimmern und Verhörräumen und hören zu: der Familie, der ehemaligen Freundin, den Dating-Bekanntschaften, den Nachbarn im Haus. Immer wieder stoßen sie auf dieselbe Mischung aus schlechtem Gewissen, Rechtfertigungsversuchen und hilfloser Distanz. Dass Nelly niemandem wirklich nahe war, ist am Ende nicht die Geschichte eines einzelnen Versagens, sondern einer ganzen Umgebung, die sich bequem eingerichtet hat.
Für das Stuttgarter „Tatort“-Team ist der Fall damit auch persönlich. Die Frage, wie viel Nähe man selbst zulässt, wie aufmerksam man im eigenen Alltag ist, schwingt in vielen Szenen mit – ohne dass der Film daraus eine Moralkeule macht.
Besetzung: Die Darsteller im Überblick
Wie beim erfolgreichen Frankfurt-„Tatort“ „Weil sie böse sind“ lebt auch dieser Fall stark von seinem Ensemble. Die wichtigsten Rollen im Überblick:
- Thorsten Lannert – Richy Müller
- Sebastian Bootz – Felix Klare
- Nelly Schlüter – Bayan Layla
- Fine Slowinski – Trixi Strobel
- Niclas Slowinski – Louis Nitsche
- Yasemin Schlüter – Idil Üner
- Henning Schlüter – Robert Kuchenbuch
- Felix Vietze – Malik Blumenthal
- Christine Haller – Lana Cooper
- Elvira Möbius – Daniela Holtz
- Dr. Daniel Vogt – Jürgen Hartmann
- Rike Singer – Melanie Straub
- Lina Teismann – Leonie Wesselow
- Romy Schlüter – Dalya Altan
- Vermieter – Robert Besta
- Hamed Nosrati – Armin Wahedi
- Martin Wells – Peer Oscar Musinowski
- Schauspieler / TV-Moderator – Pierre M. Krause
Buch: Katrin Bühlig
Regie: Milena Aboyan
Kamera: Michael Merkel
Musik: Kilian Oser
Sendetermin & Mediathek: Wann läuft der Stuttgart-Tatort?
„Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen“ läuft heute Abend um 20:15 Uhr im Ersten.
Direkt nach der TV-Ausstrahlung steht der Film außerdem in der ARD Mediathek zum Abruf bereit.
Fazit:
„Überlebe wenigstens bis morgen“ ist kein Wohlfühl-Sonntagskrimi, sondern ein stilles, konsequentes Einsamkeits-Drama aus Stuttgart. Wer den Fall schaut, wird den Blick auf die eigenen Kontakte, Nachbarn und vermeintlichen „Randfiguren“ im Alltag so schnell nicht mehr los.