Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung bringt jetzt Licht ins Dunkel – und zeigt ein alarmierendes Bild: Mehr als die Hälfte der Bürgergeld-Empfänger sucht derzeit gar keinen Job. Viele Betroffene kämpfen mit gesundheitlichen Problemen, andere fühlen sich vom Jobcenter im Stich gelassen.
Über die Hälfte ohne aktive Jobsuche
Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) befragte im Auftrag der Bertelsmann Stiftung über 1.000 Bürgergeld-Beziehende zwischen 25 und 50 Jahren. Das Ergebnis:
57 Prozent gaben an, in den letzten vier Wochen gar nicht nach Arbeit gesucht zu haben.
Auffällig: Männer (53 Prozent) und Frauen (63 Prozent) unterscheiden sich deutlich – Frauen suchen noch seltener nach einem Job. Und selbst unter denjenigen, die aktiv sind, bleibt die Intensität gering:
Nur ein Viertel sucht bis zu neun Stunden pro Woche nach Arbeit, gerade einmal sechs Prozent investieren 20 Stunden oder mehr.
Jobcenter: Kaum Jobangebote – zu wenig Weiterbildung
Ein weiteres Ergebnis, das aufhorchen lässt: Fast jeder Zweite (43 Prozent) hat vom Jobcenter noch nie ein Jobangebot bekommen.
Auch bei Weiterbildungsangeboten sieht es düster aus: 38 Prozent der Befragten berichten, sie seien bislang leer ausgegangen.
Besser dran sind Bürgergeldempfänger mit Berufsausbildung oder Studium – sie bekommen häufiger passende Stellen vorgeschlagen. Menschen mit Hauptschulabschluss werden dagegen meist nur für Weiterbildungsmaßnahmen angesprochen. Besonders Frauen mit kleinen Kindern fallen durchs Raster.
Roman Wink, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung, fordert deshalb:
„Die Jobcenter müssen den Schwerpunkt neu setzen. Weniger Bürokratie, mehr Vermittlung. Jobcenter müssen Menschen in passende Arbeit bringen.“
Krankheit stoppt viele – psychische Belastungen weit verbreitet
Der wohl schwerwiegendste Befund: 45 Prozent der Befragten leiden an psychischen oder chronischen Krankheiten. Unter denen, die aktuell gar nicht nach Jobs suchen, ist der Anteil sogar noch höher – 74 Prozent.
Diese gesundheitlichen Belastungen machen vielen eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt praktisch unmöglich. Tobias Ortmann, ebenfalls Arbeitsmarktexperte der Stiftung, warnt:
„Wenn chronische oder psychische Krankheiten keine realistische Chance auf Integration bieten, sollte geprüft werden, ob ein Wechsel in andere Unterstützungssysteme – etwa Sozialhilfe oder Erwerbsminderungsrente – sinnvoll ist.“
Viele haben den Anschluss verloren
Auch Langzeitbeziehende geraten laut Studie zunehmend in eine Sackgasse. Wer lange vom Bürgergeld lebt, verliert oft den Anschluss – und mit ihm die Motivation.
49 Prozent der Nicht-Suchenden sagen, sie fänden schlicht keine passenden Jobs.
25,5 Prozent sehen keinen finanziellen Vorteil, wenn sie arbeiten gehen.
22 Prozent sind durch die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gebunden.
Elf Prozent halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Ortmann betont, wie wichtig jetzt ein Umdenken ist:
„Aufgabe der Jobcenter ist es, zu unterstützen und passgenaue Jobs oder Qualifizierung anzubieten. Wer arbeiten kann, muss Angebote annehmen. Wer nicht kann, braucht mehr Hilfe.“
Er fordert konsequentes Handeln gegen Schwarzarbeit und plädiert für mehr geförderte Beschäftigung:
„Das Bürgergeld selbst kann zur Finanzierung solcher Programme genutzt werden.“
Mehr Förderung statt Formulare
Die Ergebnisse machen deutlich: Das Bürgergeld-System steht vor einem Wendepunkt.
Viele Empfänger wollen arbeiten, können aber nicht – andere könnten, tun es aber nicht. Und die Jobcenter? Oft fehlen passende Stellen, individuelle Förderung oder ausreichend Weiterbildung.
Wink fordert deshalb einen klaren Kurswechsel:
„Fördern und Fordern gehören zusammen. Wer Qualifizierung braucht und die Bereitschaft zeigt, muss unterstützt werden. Nur so schaffen wir echte Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“
Die Bertelsmann-Studie zeigt: Deutschland hat kein Arbeitsproblem – sondern ein Vermittlungsproblem.
Zu viel Verwaltung, zu wenig Menschlichkeit, zu wenig echte Hilfe.
Wer das Bürgergeld reformieren will, muss nicht nur auf Zahlen schauen – sondern auf die Menschen dahinter.
Hintergrund zur Studie
Die Untersuchung „Lebenssituation und Erfahrungen von Bürgergeldbeziehenden (LEBez)“ wurde vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und dem SOKO Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt.
Befragt wurden 1.006 Leistungsberechtigte zwischen 25 und 50 Jahren, die seit mindestens einem Jahr Bürgergeld beziehen. Die Erhebung lief vom 15. April bis 18. Juni 2025, genehmigt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Ziel: Mehr über die Lebensrealität, Jobchancen und Hemmnisse der Bürgergeld-Empfänger zu erfahren – und Impulse zu liefern, wie das System gerechter und effektiver werden kann.



