Gefrorene Wahrheit statt Fahrrad-Sensation
Alles deutet auf einen historischen Paukenschlag hin: Hobrecht & Hobrecht, fünfte Generation, Münsteraner Stolz in Reinform, kündigt ein Fahrrad an, das angeblich beweist, dass das moderne Bike nicht in England, sondern in Münster erfunden wurde. Die Stadt fiebert dem Moment entgegen. Kameras sind bereit. Gäste applaudieren. Der Deckel der Kiste hebt sich.

© WDR/Frank Dicks
Doch das, was dadurch sichtbar wird, hat mit Mobilität wenig zu tun: eine Kühltruhe – und darin ein tiefgefrorener Toter.
Der Tote ist Albert Hobrecht, Bruder des Firmenpatriarchen. Wo ein Fahrrad Geschichte schreiben sollte, schreibt nun ein Mord die Schlagzeilen. Münster hat schon viele skurrile Tatort-Momente gesehen, aber dieser ist selbst für Boerne eine neue Kategorie.
Ein Kommissar, ein Professor – und eine Familie voller Abgründe
Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) ermittelt mitten in einem Familienkonstrukt, in dem Rivalitäten, Neid, gekränkter Stolz und unausgesprochene Rechnungen seit Jahrzehnten schwelen. Kaum ein Name fällt, ohne dass ein neues Motiv aufflackert. Jeder Hobrecht hat etwas zu verbergen, und jeder scheint zugleich Opfer wie Täter sein zu können.

© WDR/Frank Dicks
Während Thiel versucht, Ordnung ins genealogische Chaos zu bringen, wendet sich Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) erneut seiner Lieblingsbeschäftigung zu: den Toten. Gemeinsam mit Silke Haller („Alberich“)
begibt er sich in ein Experiment zwischen autodidaktischer Tiefkühltechnik und archäologisch anmutender Spurensuche. Was er dort entdeckt, reicht weit über den Tatort hinaus – hinein in ein Geheimnis, das die Fahrradgeschichte Münsters in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
Speichenstolz, Stadtmythos und Münster im Overdrive
Regisseur Till Franzen nutzt das Thema nicht als Kulisse, sondern als Identität. Münster wird zur Hauptfigur: eine Stadt, die aus Fahrrädern, Eitelkeiten und jahrhundertealten Erzählungen besteht. Zwischen Pizza-Slice und pedantisch poliertem Knochenfragment entfaltet sich ein Krimi, der nicht nur einen Mord, sondern auch einen Mythos sezieren will.

© WDR/Frank Dicks
Die Dialoge flirren zwischen pointierter Ironie und hingebungsvoller Provinzverklärung. Wenn Thiel röhrt, Boerne glänzt und Haller trocken kontert, fühlt es sich an wie ein Heimspiel der Tatort-Kultmannschaft – nur dass diesmal die Zuschauer nicht wissen, welches Rad sich als nächstes löst.
Der letzte Auftritt einer Kultfigur
Ohne große Worte, aber mit schwerem Gewicht markiert dieser Tatort einen Einschnitt. Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), seit Jahren der dunkle Bass in diesem Münster-Ensemble, tritt in ihrem letzten Fall an. Ihre resolute Art, ihre unverwechselbare Stimme, ihre Präsenz – sie prägen den Film, ohne ihn zu dominieren.
Der Abschied wird nicht ausgeschlachtet, aber spürbar inszeniert. Was bleibt, ist kein Paukenschlag, sondern ein Nachhall.
Bewertung: Münster dreht am Rad – und trifft fast ins Schwarze
„Die Erfindung des Rades“ überzeugt mit einem Thema, das so passgenau auf Münster zugeschnitten ist, dass man sich fragt, warum es nicht längst erzählt wurde. Die Mischung aus lokalem Stolz, skurrilem Humor und einer fast liebevollen Überzeichnung des Alltags ist typisch Münster – nur hier funktioniert sie so mühelos, dass selbst die absurdesten Momente einen Platz finden.

© WDR/Frank Dicks
Doch der Tatort verheddert sich streckenweise in seiner eigenen Familienforschung. Die Vielzahl an Hobrechts sorgt dafür, dass man gedanklich manchmal mittritt, statt miträtselt. Und nicht jede Pointe sitzt so präzise wie das berühmte Boerne-Skalpell.
Trotzdem bleibt ein Krimi, der seinen eigenen Weg geht, der wagt, überzeichnet und dabei eine überraschend kluge Geschichte erzählt – und sich am Ende mit einem eleganten Bogen Richtung Münster-Legende verabschiedet.
Unser Urteil: Ein starker, eigenwilliger Tatort, der den Charakter der Stadt atmet und in Erinnerung bleibt.
8 von 10 Punkten.
Fazit: Pflichttermin für Fans der Münster-Schule
Dieser Tatort ist kein Fall von der Stange. Er ist: frech, lokal verwurzelt, pointiert geschrieben, emotionaler als erwartet und ein würdiges Kapitel für ein Team, das es geschafft hat, aus einem Krimi-Format eine eigene Marke zu formen. Wer Münster mag, wird diesen Abend genießen.
Tatort: Die Erfindung des Rades
Sonntag, 7. Dezember 2025, 20.15 Uhr im Ersten
Danach ein Jahr lang in der ARD-Mediathek verfügbar.
Besetzung
Frank Thiel – Axel Prahl
Prof. Karl-Friedrich Boerne – Jan Josef Liefers
Silke Haller „Alberich“ – ChrisTine Urspruch
Mirko Schrader – Björn Meyer
Wilhelmine Klemm – Mechthild Großmann
Konstantin Hobrecht – Franz Hartwig
Kurt Hobrecht sen. – Hannes Hellmann
Klara Hobrecht – Karolina Lodyga
Maria Hobrecht – Oona von Maydell
Albert Hobrecht – Heinrich Giskes
u. v. m.
Stab
Buch: Thorsten Wettke
Regie: Till Franzen
Musik: Andreas Weidinger
Kamera: Jan Prahl
Produktion: WDR / Deutschland 2025
Ein Tatort, der nicht einfach einen Mord erzählt –
sondern eine Stadt, die glaubt, das Rad neu erfunden zu haben.



