Ein junger Mann aus der Trümmerzeit
Richard Schuh wurde am 2. Oktober 1920 im kleinen Dorf Remmingsheim bei Tübingen geboren. Er war gelernter Mechaniker, diente im Zweiten Weltkrieg bei der Luftwaffe und geriet nach Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft. Als er 1946 entlassen wurde, fand er eine Welt vor, die in Schutt und Asche lag: Fabriken zerstört, Hunger allgegenwärtig, Arbeit rar. Wie viele in dieser Zeit schlug sich Schuh mit Gelegenheitsjobs durch. Doch der Mangel machte auch aus einfachen Männern Verzweifelte.
Ein Mord für vier Reifen
Am 28. Januar 1948 trampte Schuh auf der Landstraße bei Herrenberg. Ein Lkw-Fahrer nahm ihn mit – eine Begegnung, die tödlich endete. In seiner Tasche: eine alte Wehrmachtspistole. Als der Fahrer anhielt, schoss Schuh mehrmals, warf die Leiche in den Straßengraben und fuhr weiter. Sein Ziel: die nagelneuen Reifen des Lasters. Gemeinsam mit zwei Komplizen wollte er sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Doch die Polizei kam ihm schnell auf die Spur – Schuh wurde festgenommen und gestand.
Ein Urteil, das Geschichte schrieb
Am 14. Mai 1948 stand Richard Schuh vor dem Landgericht Tübingen. Das Urteil war eindeutig: Tod durch das Fallbeil. Die Richter sahen in ihm einen Mann, der durch Krieg, Hunger und Not jede Achtung vor dem Leben verloren hatte. In der Urteilsbegründung heißt es, Schuh habe „den Respekt vor Menschenleben und die Achtung vor den Gesetzen eingebüßt“.
Doch es gab auch Stimmen, die Milde forderten: Der Direktor des Tübinger Gefängnisses und Schuhs Angehörige baten um Gnade. Sogar Teile der Justiz zweifelten, ob die Todesstrafe noch zeitgemäß sei. Aber der Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern, Gebhard Müller, lehnte ab – er war ein erklärter Befürworter der Todesstrafe.
Die letzte Nacht
Am 17. Februar 1949, gegen 22 Uhr, wurde Richard Schuh die Entscheidung mitgeteilt: Das Todesurteil würde am nächsten Morgen vollstreckt. Keine 24 Stunden blieben ihm. Am frühen Morgen des 18. Februar, Punkt 6.00 Uhr, wurde er im Hof des Gefängnisses in der Doblerstraße 18 in Tübingen aus der Zelle geführt.
Die kleine Armsünderglocke des Rathauses läutete – zum letzten Mal. Eine Guillotine war eigens aus Rastatt hergebracht worden. Zeugen berichten, Schuh sei gefasst gewesen, habe kein Wort mehr gesprochen. Dann fiel das Fallbeil.

Foto: Von Strafvollzugsmuseum – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link
Sein Leichnam wurde dem anatomischen Institut der Universität Tübingen übergeben. Im Leichenbuch ist vermerkt, dass sein Kopf „wissenschaftlichen Zwecken“ diente – ein letztes Detail aus einer Zeit, in der das Leben wenig galt.
Ein Land zwischen Recht und Moral
Nur drei Monate nach Schuhs Tod wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Artikel 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Der Fall Richard Schuh wurde zum Wendepunkt. Er steht für den Bruch zwischen dem alten Recht der Nachkriegsjahre und dem neuen moralischen Anspruch eines demokratischen Deutschlands.
Ein Fall, der nie vergessen wurde
Heute, 75 Jahre später, erinnert die Stadt Tübingen mit Ausstellungen und Gedenkbeiträgen an das Schicksal des jungen Mannes. Die originale Guillotine steht im Strafvollzugsmuseum Ludwigsburg – rostig, kalt, aber voller Geschichte. Sie erzählt von einer Zeit, in der die Justiz noch mit dem Schwert urteilte, während das Land schon nach Gerechtigkeit suchte.
Der Fall Schuh bleibt mehr als eine historische Notiz: Er ist Mahnung, wie dünn die Linie zwischen Recht und Rache sein kann – und wie nah die Vergangenheit manchmal noch ist.



