Ein Kind mit zwei Gesichtern
Im Mittelpunkt steht die 9-jährige Stella Lamprecht (Katharina Weitzendorf). Nach außen ist sie das Musterbeispiel an Höflichkeit – still, angepasst, freundlich. Doch ein Vorfall im Wald lässt die Fassade bröckeln: Stella lässt ihren kleinen Bruder Moritz im Kinderwagen neben einem Wespennest zurück. Moritz kommt mit Stichen und einem Schrecken davon, aber Stellas eisige, nahezu unberührte Reaktion alarmiert Katja. Das Verhalten passt nicht zu einem Missgeschick – es wirkt kalkuliert. Aus Katjas professioneller Sorge wird ein dringender Verdacht.

© ZDF/Arvid Uhlig
Mauer des Schweigens: Eltern wollen die Wahrheit nicht sehen
Katja sucht das Gespräch mit den Eltern Ida (Stephanie Schönfeld) und Georg Lamprecht (Daniel Krauss). Was als einfühlsame Warnung beginnt, prallt an Unglauben, Abwehr und Verdrängung ab. Die Familie will das Offensichtliche nicht sehen – aus Angst, Scham, Überforderung. Schließlich wird Katja abgewiesen. Damit verlagert sich das Drama von der Frage „Was ist passiert?“ hin zu „Wer übernimmt Verantwortung?“. „Frühling“ zeigt hier seine größte Stärke: Die Serie verdammt niemanden vorschnell, sondern zeichnet Mechanismen der Verdrängung nach, wie sie in Krisenfamilien oft zu beobachten sind.

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Beweis aus dem Off: Die Wildtierkamera spricht
Der Wendepunkt kommt nüchtern-technisch – und gerade darin liegt seine Wucht: Eine zufällig installierte Wildtierkamera dokumentiert den entscheidenden Moment. Die Aufnahmen widerlegen die harmlose Version der Ereignisse und zwingen die Eltern zur Einsicht. Erst jetzt wird der notwendige Schritt möglich: Stella braucht Hilfe – nicht Schuldzuweisung, sondern professionelle Diagnostik und Therapie. Die Folge verwechselt Sensation nicht mit Sensibilität: Sie nutzt die Enthüllung nicht für Schockeffekte, sondern als Tür zu ehrlicher Hilfe.

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Privatfront im Ausnahmezustand: Katja zwischen Liebe, Partys und Grenzen
Parallel eskaliert Katjas Privatleben. Frisch verliebt in Tom Kleinke (Jan Sosniok), ist sie selten zu Hause – eine Leerstelle, die ihr Sohn Adrian (Kristo Ferkic) mit Partys und Grenzüberschreitungen füllt. Der Tiefpunkt: zwei halbnackte Fremde in Katjas Bett, darunter der unangenehme Flo (Raphael Kalkowski), der sich kurzerhand einnistet. Tochter Lilly (Julia Beautx) kämpft derweil mit Beziehungsstress. Diese Nebenhandlung ist mehr als Kulisse: Sie spiegelt Kontrollverlust, Verantwortung und Grenzen – exakt die Themen, die Katja im Lamprecht-Fall beruflich verhandelt. Wo endet Fürsorge, wo beginnt Konsequenz? „Frühling“ verknüpft beide Ebenen sauber, ohne den Hauptfall zu verwässern.
Warum „Frühling – Kleiner Engel, kleiner Teufel“ heraussticht
Diese Folge besticht vor allem durch ihre psychologische Tiefe. Anstatt in klischeehafte Schuldzuweisungen zu verfallen, zeigt die Episode die Ambivalenzen aller Beteiligten – von den Eltern über die Dorfhelferin Katja Baumann bis hin zu Stella selbst. Drehbuchautorin Natalie Scharf und Regisseur Thomas Kronthaler bauen den Spannungsbogen dabei ruhig, aber stetig auf. Besonders die Entscheidung, den entscheidenden Wendepunkt über eine nüchtern aufgezeichnete Wildtierkamera zu inszenieren, verleiht der Geschichte eine realistische, unspektakuläre und gerade dadurch glaubwürdige Note. Auch die Figurenarbeit überzeugt: Simone Thomalla verkörpert Katja als professionell-empfindsame Grenzgängerin – kontrolliert in ihrem Ton, aber klar in ihrer Haltung. Die Eltern werden nicht als eindimensionale Gegenspieler inszeniert, sondern als tragische Verweigerungsgemeinschaft, die erst lernen muss, ihr Kind so zu sehen, wie es wirklich ist.

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Zahlen, die sprechen – und wo man die Folge streamen kann
Die Erstausstrahlung am 15. Januar 2023 holte 6,02 Millionen Zuschauer und einen Marktanteil von 19,2 % – klare Bestätigung, dass „ZDF Frühling“ im „Herzkino“ Publikum bindet. Die Wiederholung am 10. August 2025 (20:15 Uhr, ZDF) bietet Gelegenheit zum Wiedersehen. In der ZDF-Mediathek steht „Kleiner Engel, kleiner Teufel“ vom 19. Juli 2025 bis 19. Juli 2026 zum Abruf bereit.
Darsteller & Credits
- Katja Baumann – Simone Thomalla
- Stella Lamprecht – Katharina Weitzendorf
- Ida Lamprecht – Stephanie Schönfeld
- Georg Lamprecht – Daniel Krauss
- Tom Kleinke – Jan Sosniok
- Adrian – Kristo Ferkic
- Lilly – Julia Beautx
- Flo – Raphael Kalkowski
- Buch: Natalie Scharf
- Regie: Thomas Kronthaler
Einordnung: Sensible Themen verantwortungsvoll erzählt
„Frühling“ wählt inhaltlich einen schmalen Grat: Ein Kind als potenzielle Gefährderin zu zeigen, birgt das Risiko der Stigmatisierung. Die Episode entschärft das, indem sie keine Etiketten verteilt, sondern konsequent auf Beobachtung, Dokumentation und Hilfe setzt. Sie fragt: Wer sieht hin, wenn es schwerfällt? Die Antwort liegt nicht im Strafreflex, sondern in früher Intervention – ein realistischer, erwachsener Ansatz für das „Herzkino“.
Fazit: Sehen – wegen der Fragen, die bleiben
„Kleiner Engel, kleiner Teufel“ ist kein Schockkino, sondern ein stiller Sprengsatz. Wer „ZDF Frühling“ mag, findet hier eine konzentrierte, psychologisch dichte Episode – mit Simone Thomalla in einer Rolle, die Professionalität und Verletzlichkeit glaubhaft vereint. Sehenswert, weil die Folge nicht nur löst, sondern nachhallen lässt: Was bedeutet Fürsorge, wenn Liebe den Blick trübt?
